Europa - zwischen Angst und Hoffnung

Veröffentlicht am 09.10.2016 in Veranstaltungen

Diskutierten die Zukunft Europas: Europa-Abgeordneter Ismail Ertug (Mitte) mit Reinhold Perlak MdL a.D. (4.v.l.) und dem stellv. SPD-Ortsvorsitzenden Franz Bayer (4.v.re.). Mit dabei waren die Vertreter des AK Labertal, Rainer Pasta (li.), Bruno Dengel (2.v.li.) und Emanuel Kempe (re.), der AG 60+, Irene und Adi Ilgmeier (3.v.re. bzw. 3. v.li.) sowie Pfarrer Ulrich Fritsch (2.v.re.)

 

„Ich glaube an die europäische Idee und ich werde mich weiter dafür einsetzen"

Europa-Gespräch mit Ismail Ertug, MdEP - Fazit war: „Wir brauchen mehr Europa“

Zum Generationengespräch mit dem Europa-Abgeordneten Ismail Ertug lud der SPD-Arbeitskreis Labertal sowie die SPD AG 60+ Niederbayern am Samstag in die Taverne Korfu (ehem. Gasthof Wild) in Geiselhöring ein. Zum Thema „Europa - zwischen Angst und Hoffnung“ entwickelten sich interessante Gespräche mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ismail Ertug, seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments für Niederbayern und die Oberpfalz, ist der Sohn türkischer Gastarbeiter und im oberpfälzischen Amberg aufgewachsen. Als „überzeugter Europäer, Oberpfälzer und Sozialdemokrat“ ging Ertug auf die verschiedenen Fragen und Meinungen ein und stellte seine Antworten darauf ausführlich dar. Die Themen reichten vom Brexit über die Landwirtschaft und dem Lobbyismus hin zu Griechenland und der Flüchtlingspolitik. Die Zukunft Europas und die SPD-Europapolitik schlossen den Themenreigen ab.

Mit dem Europaabgeordneten Ismail Ertug habe man einen Insider zu sich ins Labertal nach Geiselhöring eingeladen, der die Anwesenden über die aktuelle Lage in Europa bestens aufklären könne, so Rainer Pasta, Sprecher des AK Labertal, der sich in seiner Begrüßung besonders über die Teilnahme von Reinhold Perlak, MdL a.D. und ehemaligen Europapolitiker der SPD-Landtagsfraktion, freute. Irene Ilgmeier, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft 60+ im Landkreis Straubing-Bogen, betonte, dass vor allem die Jugend beim Thema Europa gefordert sei und sich aktiv in die aktuellen politischen Diskussionen einbringen müsse.

Brexit und jetzt?

Das erste Thema, das in die Diskussion gebracht wurde, war der Brexit und seine Folgen für Großbritannien, Europa und Deutschland. "Es ist für mich unvorstellbar zu glauben, dass man alleine stärker ist, als zusammen", kommentierte Ertug das Votum Großbritanniens. Die Folgen dieses Votums seien bereits jetzt spürbar. „Die Wirtschaft Großbritanniens wird eine Vollbremsung hinlegen und die Briten werden ihre Entscheidung noch zutiefst bereuen“, so Ertug. Während Europa ohne sie weiter Reformen für mehr Wachstum und Beschäftigung angehen würde, müssten die Briten herbe Wohlstandsverluste hinnehmen, erläutert Ismail Ertug. "Die Austrittsverhandlungen müssen ohne Verzögerung aufgenommen werden. Dabei darf der Austritt des Landes nicht auch noch belohnt werden. Definitiv darf und kann es keine Extrawürste und Vorteile für den Austritt geben", so Ertug weiter.

Ertug erinnerte an die verantwortungslose Propaganda der konservativen und rechten Gruppierungen im britischen Parlament gegen ein vereintes Europa und verwies auf die Feigheit der verantwortlichen Wortführer, die sich alsbald aus der Verantwortung stahlen. „Wir müssen daraus die richtigen Schlüsse ziehen“, so Ertug, „das EU-Parlament muss die vollen gesetzgeberischen Kompetenzen bekommen. In der momentanen Machtarchitektur kann im Rat und in der Kommission jeder Regierungschef sich auf Kosten der Gemeinschaft profilieren. Hoffentlich haben jetzt auch andere nationale Regierungen kapiert, dass ihr dauerndes EU-Bashing ernsthafte Folgen hat und sie dafür die Verantwortung tragen.“

Aus Europa müsse wieder ein gemeinsames politisches Projekt werden, so Ertug. In den letzten Jahren und Jahrzehnten standen immer nur der Markt und die Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund. „Der Brexit wird nicht das Ende, sondern muss ein Neustart für Europa werden. Europa muss endlich seine soziale Dimension stärken: Investieren, abrücken von der unsinnigen Sparpolitik und Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. Europa muss ein Projekt für die Menschen und nicht nur für die Wirtschaft und Banken werden", forderte Ertug.

Für Deutschland sieht Ertug so gut wie keine negativen Folgen. Anders für Großbritannien, dem die Isolation in Europa und sogar das Auseinanderbrechen drohe, wenn Schottland und andere Teilstaats nun ihrerseits per Referendum die Abspaltung vom Königreich einleiten um die Vorteile Europas weiter für sich reklamierten.

Landwirtschaft – Subventionen – Lobbyismus und die Verantwortung der Politiker

Ismail Ertug, u.a. stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, freute sich über eine Frage zur Landwirtschaftspolitik in Europa. So fürchtete ein Zuhörer durch fehlgeleitete Subventionen eine  Entwicklung hin zu „kombinatähnlichen Großbetrieben“, ein anderer fand die Exporte u.a. nach Afrika verantwortungslos, weil damit die dortige Selbstversorgung zerstört werde. Ertug bestätigte die Problematik der Subventionierung, die vor allem Großbetrieben zu Gute käme. „Alle reden von Regionalisierung und der Förderung von heimischen Produkten“, stellte Ertug in den Raum und erklärte im gleichen Atemzug, dass er dies alles nur für unaufrichtige Sonntagsreden halte. Die Macht liegt beim Bayerischen bzw. Deutschen Bauernverband und hier seien die Ziele andere: „Wachstum und Export um jeden Preis“.

Reinhold Perlak, MdL a.D. erklärte, dass die Bauern selbst nicht immer klug agierten. Er erinnerte an die Gründung von Genossenschaften um dem Preis- und Lieferdiktat der Verarbeitungsbetriebe durch eigene Größe zu entgehen. Die Folge war, dass die großen Anbieter plötzlich mit noch größeren Abnehmern, wie Lidl oder Aldi verhandeln mussten – zum Nachteil der kleinen Bauern, wie sich nicht zuletzt bei der Milch am deutlichsten verfolgen lies.

Beim Thema Lobbyismus, waren die Zuhörer von der Position Ertugs überrascht: „Es gibt heute Regeln für den Umgang mit Lobbyisten. Die erlauben es Abgeordneten, sich von unterschiedlichen Interessenvertretern informieren zu lassen, ohne ihnen zu große Einflussmöglichkeiten zu bieten“. Dies gelte z.B. für die Milchbauern wie auch für alle übrigen Erzeugerbereiche auf dem Sektor Landwirtschaft. „Lobbyisten müssen für ihre Anliegen werben, daran ist nichts verwerfliches“, so Ertug, der gleichzeitig den Abgasskandal anführte, wo der Lobbyismus ins Negative verkehrt wurde.

Ertug als Mitglied im Untersuchungsausschuss zum Abgasskandal berichtete, dass alle Mitgliedstaaten der EU spätestens am 2. Januar 2009 bereits wirksame und abschreckende Strafen einführen hätten müssen, um solche Betrügereien wie bei Volkswagen angemessen zu sanktionieren und vor allem um sie zu verhindern. Die Kommission gab auf seine Anfrage hin nun zu, erst 2013, also vier Jahre nach der Frist, bei den Mitgliedsstaaten angefragt zu haben und ein weiteres Mal im Lichte des Abgasskandals im Oktober 2015. „Skandalös ist die Bilanz dieser Nachfrage: Wenn über 80 Prozent aller Staaten, darunter auch Deutschland, eine Richtlinie nicht umsetzen, hat die Kommission eklatant versagt", kommentiert Ismail Ertug.

Wenn es um den Schutz der Umwelt und der Gesundheit von Millionen Menschen gehe, drücke die Kommission offenbar gerne ein Auge zu. Hier hätten die Lobbyisten ganze Arbeit geleistet, so Ertug. Der Parlamentarier erinnerte aber an die Verantwortung der Politiker, die sich zwar informieren, sich ihre Entscheidungen aber werde diktieren noch aufdrängen lassen dürften.

"Marshall- Plan" für Griechenland die bessere Lösung

Stadtrat Harry Büttner brachte schließlich die Griechenlandkrise ins Gespräch und wollte wissen ob diese nun ausgestanden sei. Ertug verneinte dies ganz offen und prognostizierte sogar, dass sich die Krise auf die anderen südeuropäischen Staaten ausgedehnt würde, wenn das Spardiktat der konservativ-liberalen Kommission weiter die Prämisse der Politik bleibe. Die Antwort auf diese Krise, von der Deutschland sogar profitiere, müsse mehr europäische Solidarität sein, so Ertugs Gegenposition. Die einseitige Forderung nach immer neuen Sparmaßnahmen liessen Staaten wie Griechenland nie mehr auf die Beine kommen und weite Teile der Bevölkerung verarmen. "Ein „Marshall- Plan“ für Griechenland wäre flankierend die bessere Lösung, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Finanzprobleme über Wachstum zu lösen", so Ismail Ertug

Ertug erinnerte, dass Deutschland, was häufig verschwiegen werde, gewaltigen Nutzen aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der EU ziehe: „Deutschland und die deutsche Wirtschaft erwirtschaften viel Geld auf Grund des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes, der Deutschland zum "Exportweltmeister" gemacht hat. Durch den übermäßigen Absatz von Waren in unsere europäischen Partnerländer hat Deutschland Gewinne und einige Länder Verluste gemacht. Um diese Verluste auszugleichen, haben diese Länder auf Dienstleistungen oder Finanzwirtschaft gesetzt. Dieser Wirtschaftsbereich ist aber in der Weltfinanzkrise seit 2007 ins Wanken geraten. Sie mussten sich zusätzlich verschulden, bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Deutschland bürgt für neue Kredite, damit Irland, Portugal, Spanien und Griechenland ihre Schulden bezahlen können. Und verdient daran gut“.

Im Süden Europas müsse man mit staatlichen Hilfen die Wirtschaft ankurbeln, um so neue Arbeitsplätze zu schaffen und vorhandene zu sichern. Nur mit Sparen kämen diese Staaten nicht wieder hoch. Die Sozialisten im EP wollten durch einen Wirtschaftspakt den Sparpakt ergänzen und so die sozialen Fehlentwicklungen eindämmen. „Leider gibt es nicht die einfachen Lösungen, die die radikalen Parteien fordern“, wandte sich der Abgeordnete gegen populistische Vorschläge. Ertug vertrat sogar die Meinung, dass die Europäische Zentralbank durch das umstrittene Aufkaufen von sogenannten „Bad Banks“ die betroffenen Länder am Leben erhalte und letztendlich Bürgerkriege in Südeuropa verhindere.

Europäische Lösung in der Flüchtlingspolitik

Auch die Flüchtlingspolitik kam zu Sprache. Hier kritisiert Ertug die Nachlässigkeit von Deutschland und Frankreich zu Beginn der Flüchtlingskrise, die Länder wie Griechenland, Italien, Spanien oder Zypern allein gelassen hätten, indem sie sich auf das Dublin-Verfahren berufen. "Wir als SPD haben uns in dieser Sache nichts vorzuwerfen. Wir haben gesagt, dass das Dublin-Verfahren diese Länder an den Rand ihrer Existenz bringen wird", sagt er und wies darauf hin, dass Dublin II bis heute gelte und immer noch nicht funktioniere. „Wir müssen die Dublin-II-Verordnung ändern“, forderte er, dass also Flüchtlinge nicht in dem Land, in dem sie europäischen Boden betreten, einen Asylantrag stellen müssten. Die Flüchtlinge müssten auf alle europäischen Staaten verteilt werden. Ebenso müssten die Fluchtursachen unter Mitwirkung der EU beseitigt werden.

Die Zukunft Europas: Eine gemeinsame Friedensarmee

Auf die Frage nach einem Weg, der die derzeitigen Differenzen der europäischen Staaten überwinden und mehr Einigkeit herstellen könne, antwortete Ertug völlig überraschend mit der Forderung nach einer gemeinsame Friedensarmee. „Eingebunden in eine europäische Außen- und Handelspolitik, ist eine europäische Armee für uns eine langfristige Perspektive“, so Ertug. Die europäische Außenpolitik sei derzeit die Achillesferse der EU, erklärte Ertug den Zuhörern. Viel zu leicht liessen sich die 28 Mitgliedsstaaten auseinander dividieren, wenn es um die nationalen Sicherheitsinteressen gehe.

Nach dem Ausscheiden Großbritanniens, das bisher eine gemeinsame Armee strikt ablehnte, und der zunehmenden Angst der osteuropäischen Staaten vor Putins Russland, wachse die Bereitschaft, Kompetenzen abzugeben und auf engere militärische Zusammenarbeit zu setzen. „Die gemeinsame Währung und eine gemeinsame Verteidigung – darauf liesse sich die Zukunft Europas aufbauen“, zeigte sich Ertug überzeugt. „Der Einsatz einer europäischen Armee muss aber parlamentarisch legitimiert sein. Zivile und diplomatische Mittel der Konfliktprävention haben für uns aber immer Vorrang“, stellte Ismail Ertug die sozialdemokratischen Eckpunkte in dieser Frage klar.

Sozialdemokratische Europapolitik: Nachhaltigkeit vor Eigeninteresse

Ertug stellte klar, dass Europa mit der Wahl von Martin Schulz zum Präsidenten des Europäischen Parlaments, an herausragender Stelle ein sozialdemokratisches Gesicht bekommen habe. Ein unabdingbares Gegengewicht zur konservativ-liberalen Mehrheit in Europa, denn Europa müsse viel Gemeinsamkeit und Einigkeit zeigen und sei nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft. Auf sich alleine gestellt könnten die Nationalstaaten keine Maßnahmen gegen Lohn- und Steuerdumping, den Klimawandel oder die Auswüchse der Finanzmärkte ergreifen. Die Lösbarkeit immer mehr politischer Aufgaben erfordere die engere Zusammenarbeit der Staaten Europas. „Wie wichtig die Sicherung des Friedens in Europa durch ein einiges Europa ist, sieht man derzeit in Syrien“, erinnerte Ertug und verwies auf die Hilflosigkeit der Staatengemeinschaft den kriegerischen Konflikt zu beenden, der tagtäglich ungeheuere Opfer unter der Zivilbevölkerung fordere und ein ganzes Land zerstöre.

"Die Europäische Union ist nicht perfekt – aber sie ist bisher das beste Konstrukt, um ein friedliches Miteinander in Vielfalt zu garantieren“, zeigte sich Ertug überzeugt. Wenn die Politiker sich als die Getriebenen der Probleme zeigten, seien die Bürger enttäuscht und würden verunsichert. „Wir brauchen eine Politik, die eine klare Haltung, eine nachvollziehbare Strategie aufzeigt, nur so können wir den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung geben, das ist die Aufgab der Politik“, erläutert Ertug mit einem Seitenhieb auf die Wechselhaftigkeit eines Horst Seehofers.

„Wir brauchen starke Sozialdemokraten in Bayern, im Bund und in Europa, nur so können Alternativen zur Politik der letzten 15 Jahre erarbeitet und umgesetzt werden. Ich glaube an die europäische Idee und ich werde mich weiter dafür einsetzen", so Ismail Ertug abschließend.

 

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