Wanderausstellung "Schuld & Sühne?" - Abendveranstaltung in Rohr

Veröffentlicht am 07.10.2016 in Veranstaltungen

Diskutierten das Thema „Schuld & Sühne“: Johanna Werner-Muggendorfer, MdL (Mitte), die Sprecher des AK Labertal Karin Hagendorn (2.v.li.) und Rainer Pasta (2.v.re.) mit Schulleiter Franz Lang (re.) und SPD-Ortsvorsitzender Georg Riedl (li.) mit Mitgliedern der Ortsvereine Rohr und Langquaid

„Schuld ohne Sühne?“ – Nationalsozialismus wirkt bis heute nach

SPD diskutiert das Scheitern der Entnazifizierung – „Blutschwester Pia“ als Beispiel

Nach der Ausstellungseröffnung am vergangenen Dienstag lud der SPD-Ortsverein Rohr am Donnerstag zum Abendtermin mit Ausstellungsrundgang und Diskussion in die Aula des Johannes-Nepomuk-Gymnasiums ein. Stellvertretende Sprecherin des SPD-Arbeitskreises Labertal, Karin Hagendorn führte durch die Ausstellung. In der anschließenden Diskussion stellten die Landtagsabgeordnete Johanna Werner-Muggendorfer und der Sprecher des AK Labertal, Rainer Pasta die entscheidenden Fragen.

Schulleiter Franz Lang freute sich, nachdem er bereits zur Ausstellungseröffnung durch den Leiter des Münchner Staatsarchivs, Dr. Christoph Bachmann, die Intention der Ausstellung „Schuld & Sühne?“ zu den Ermittlungen und Strafverfahren wegen Nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Bayern erfahren hatte, dass Karin Hagendorn auf einzelne Ausstellungstafeln und die darauf dargestellten Fälle detailliert einging.

Wie bereits Dr. Bachmann ausführte, liege die Bedeutung der Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen nicht im Ergebnis der Gerichtsverfahren, denn diese wurden zu 95% niedergeschlagen und die Täter gingen meist straffrei aus, stellte Karin Hagendorn während der Erklärung zu den Ausstellungstafeln dar. Das Gewicht liege mehr auf einer pädagogischen Stufe, der Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur. „Die Umstände vieler Verbrechen wurden durch die Gerichtsverfahren erst dokumentiert und somit vor dem Vergessen bewahrt“, so Karin Hagendorn.

Blutschwester Pia – ein Laben lang überzeugte Nationalsozialistin ohne Reue

Als Beispiel griff Hagendorn die Geschehnisse um Eleonore Baur, der sogenannten Schwester Pia heraus. Eleonore Baur war eine fanatische Nationalsozialistin der ersten Stunde und persönliche Freundin Adolf Hitlers. Baur wirkte im Konzentrationslager Dachau mit außerordentlichen Privilegien. In ihrem privaten Wohnhaus in Deisenhofen bei Oberhaching war zeitweise ein Außenkommando des KZ zu Zwangsarbeit in ihrem persönlichen Umfeld eingesetzt. Viele Details ihres Lebens stützen sich auf ihre eigenen Aussagen in einer richterlichen Vernehmung am 10. Oktober 1949 im Arbeitslager Eichstätt. Die Schuld, die sie auf sich geladen habe, wurden von vielen Zeugen während des Prozesses und der anschließenden Spruchkammerverhandlung gegen sie dargestellt, so Hagendorn.

Geboren am 1885 wuchs Baur, nach eigenen Angaben, in schwierigen Verhältnissen auf. Einen Beruf hatte sie nicht erlernt. Erst später sei sie mit einer befreundeten Krankenschwester nach Ägypten gefahren und dort in einem deutschen Krankenhaus zur Krankenschwester ausgebildet worden, stellte Karin Hagendorn die Hauptfigur einer der Ausstellungstafeln vor. Baur blieb zwei Jahre in Ägypten und habe danach in München als private Krankenschwester gearbeitet. Vom „Gelben Kreuz“, einer Vereinigung von Krankenschwestern, erhielt sie den Namen „Schwester Pia“. In späterer richterlicher Vernehmung habe sie angegeben, sie habe während des Ersten Weltkriegs in ihrer Münchner Wohnung Kranke gepflegt. Erst im Frühjahr 1919, in den wenigen Wochen der Räteherrschaft in München, wurde deutlich, welche politische Gesinnung "Schwester Pia" hatte.

Im Frühjahr 1919, in den Wochen der Räteherrschaft in München, habe sie in den Kampftagen eine improvisierte Rettungsstation für Verwundete eingerichtet. Am 19. Februar 1920 traf sie, ihrer eigenen Aussage nach, in der Trambahn auf Adolf Hitler. Durch diesen Vorfall kam sie mit „der Bewegung“ in Berührung, besuchte ab nun Versammlungen und wurde bald eines der ersten Mitglieder der Partei. Am 11. März 1920 wurde sie nach einer Demonstrationen von Frauen auf der Theresienwiese der „Aufreizung zum Klassenhass“ angeklagt, das Gericht sprach sie jedoch frei. Sie habe in unverantwortlicher Weise gegen Juden gehetzt, aber ihr sei ferngelegen, die Menge zur Begehung von Gewalttätigkeiten gegen die Juden und deren Eigentum aufzufordern, stellte das Gericht fest, so Hagendorn.

Schon 1920 gegen Juden gehetzt – aber freigesprochen

In den folgenden drei Jahren sei Eleonore Baur überall zu finden gewesen, wo geschossen, gehauen und gestochen wurde. "Mit vorgehaltenem Revolver", berichtet die Berliner illustrierte Nachtausgabe habe sie nach einem Sabotageakt gegen einen Lastwagen der SA in der Nähe von Erding die Aufnahme von Verwundeten in einer Gastwirtschaft durchgesetzt, bei Straßenkämpfen in Göppingen sei ihr "buchstäblich die Nase abgeschlagen" worden - all das hat sicher einen gewissen Wahrheitskern, bei den ausschmückenden Details ist wohl Vorsicht angebracht, kommentierte Karin Hagendorn die vorgestellten Quellen.

Am 14. und 15. Oktober 1922 nahm sie am „Deutschen Tag in Coburg“ teil, wo sie als Krankenschwester das von ihr vor Jahren entworfene mobile SA-Lazarett (die „fliegende Sanitätsstation“) führte. Sie reiste überall dahin, wohin die SA und Hitler auch reisten, stets mit Personal, bereit, die verwundeten Kämpfer der Bewegung zu versorgen. Sie erlebte auch zahlreiche Saalschlachten und war am 9. November 1923 aktiv am Hitler-Ludendorff-Putsch beteiligt – sie marschierte angeblich in der vierten Reihe auf die Feldherrenhalle zu – und hatte als erste die Verwundeten geborgen, wie sie später aussagte. Nach dem gescheiterten Putsch am 9. November 1923 hielt sie sich zehn Jahre lang von der Politik fern. Erst nach Hitlers Machtergreifung wurde sie wieder aktiv, konnte Karin Hagendorn berichten.

Kometenhafter Aufstieg nach der Machtergreifung Hitlers

„1934 wurde Eleonore Baur von Heinrich Himmler als Fürsorgeschwester in der Reichsführung der SS angestellt. Himmler habe ihr zur Aufgabe gemacht, sich um kranke SS-Männer und deren Angehörige zu kümmern, sagte sie dem Untersuchungsrichter, so kam sie in das SS-Lazarett, das unmittelbar neben dem Konzentrationslager Dachau lag“, so Karin Hagendorn über den kometenhafter Aufstieg der Eleonore Baur nach der Machtergreifung Hitlers.

Am 8. November 1934 verlieh Hitler ihr den „Blutorden“ für ihre Teilnahme beim Marsch auf die Feldherrnhalle. Bei dieser Verleihung äußerte sie den Wunsch, als Krankenschwester im KZ Dachau tätig zu sein. 1936 wurde sie Ehrenoberin der NS-Schwesternschaft.

„Schwester Pia“ hatte im Lager Dachau eine Sonderstellung. Einen Dienstgrad hatte sie zwar nicht, allerdings als Zivilangestellte ein überdurchschnittliches Gehalt und einen von der SS gestellten Fahrer. Sie konnte jederzeit und ohne Begleitung von Wachpersonal das KZ Dachau betreten und verlassen. Die SS-Wachen hatten ihr Meldung zu erstatten, die Gefangenen und die SS-Dienstgrade mussten sie grüßen. Zeugen sagten aus, dass sie in Uniform der braunen Krankenschwestern das Lager besuchte, sich durch ihren SS-Chauffeur Lebensmittel aus der Lagerküche mitnehmen ließ, auch in den kargen Kriegsjahren und angeblich auch für ihre beiden Hunde. Auch Dinge wie Bettwäsche und Häftlingswäsche nahm sie aus den Vorräten mit. Viele Weihnachtsfeiern waren den Zeugen in Erinnerung. Schwester Pia verteilte kleine Pakete mit Keksen. Bei ihren Besuchen ermahnte sie die politischen Häftlinge, dem Führer Treue zu halten, belehrte und beschimpfte sie. Misshandlungen während der Feiern sind bezeugt.

Hitler hatte ihr eine Villa mit Garten in Oberhaching geschenkt, diese war teils mit Gegenständen aus den Werkstätten des KZ Dachau ausgestattet. Ein eigenes Arbeitskommando von zwei bis vier Häftlingen war ihr für die Villa unterstellt. Sie ließ sich eine Garage, einen Schuppen, ein Badehaus und einen Bunker bauen. Mehrere Häftling ihres eigenen Arbeitskommandos kam unter unklaren Umständen zu Tode.

Zwei Gerichtsverfahren gegen Eleonore Bauer – Kam nach der Schuld auch die Sühne?

Schwester Pia wurde am 5. Mai 1945 von US-amerikanischen Truppen gefangengenommen und kurz darauf wieder freigelassen. Das Counter Intelligence Corps der US-Army nahm sie am 12. Juli erneut fest. Im August 1949 wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Mord gegen sie eingeleitet. Das Landgericht hörte etwa 100 Zeugen. Baur gestand während des Verfahrens die dreimalige Teilnahme an den Unterkühlungsversuchen Dr. Raschers, die oft tödlich endeten. Dies war der am schwersten wiegende Vorwurf, der Eleonore Baur nach dem Krieg gemacht wurde. Auf ihrer Intervention hin seien Häftlinge bei den Versuchen nicht narkotisiert worden, hieß es in dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf gerichtliche Voruntersuchung, wusste Karin Hagendorn zu berichten.

Die 1. Strafkammer des Landgerichts München kam zu dem Ergebnis, dass "die Beweise für eine Beihilfe zu einem Verbrechen des Mordes, der Körperverletzung mit Todesfolge oder der gefährlichen Körperverletzung als ungenügend zu erachten" seien. Das Verfahren wurde eingestellt, die Kosten trug die Staatskasse, so Hagendorn.

Unabhängig davon wurde nach dem „Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus“ im Rahmen der Entnazifizierung eine zweite Anklage gegen sie erhoben. Die Hauptspruchkammer hörte 44 Zeugen. Aus den Aussagen ergab sich ein widersprüchliches Bild: Baur habe keine aktiven Verbrechen begangen, aber die Arbeitskraft der Häftlinge in ihrer Villa stark ausgenutzt. Sie war eine glühende Nationalsozialistin und Antisemitin und habe ihre Beziehungen zu den höchsten Parteikreisen dazu benutzt, Nachbarn und Bekannte in Angst zu versetzen.  Dagegen standen u.a. positive Zeugenaussagen meist von deutschen und österreichischen Geistlichen. Diese gaben an, dass sie durch ihre Machtposition einigen Häftlingen, größtenteils deutschstämmigen Pfarrern, geholfen habe. Sie habe ihnen Brot gebracht und sich bei einigen um Freilassung bemüht. Davon ausgenommen waren jedoch polnische Geistliche.

Erst Berufung, dann Entlassung und schließlich von den alten Kameraden betrauert

Eleonore Baur wurde am 26. August 1949 im Rahmen der Entnazifizierung von der Hauptspruchkammer München zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, was die schärfste, im Entnazifizierungsgesetz vorgesehene Sühnemaßnahme war. Dazu kam der Verlust ihrer bürgerlichen Rechte und die Beschlagnahme ihres Besitzes bis auf einen Restbetrag von 1.000 DM. Sie legte Berufung ein. Auf ihre Berufung hin reduzierte die Berufungskammer am 20. Februar 1951 das Urteil auf acht Jahre, was keine Konsequenzen mehr hatte, denn bereits im Juni 1950, acht Monate nach dem Urteilsspruch, war sie aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen worden. Sie gelangte wieder in den Besitz ihrer Villa. Später stellte sie einen Antrag auf Kriegsgefangenenentschädigung und Rente.

Dreißig Jahre später, zu ihrem 90. Geburtstag schrieb ein rechtsradikales Blatt: "Heute schaut sie in ihrem Heim in Oberhaching bei München auf ein gelebtes und bestandenes Leben zurück. Sie bereut nichts und würde es noch einmal tun." Eleonore Baur starb am 18. Mai 1981, 95 Jahre alt und betrauert von alten und neuen Nazis.

„Fällt uns die fehlgeschlagene  Entnazifizierung nach dem Krieg heute auf die Füße?“

In der anschließenden Diskussion zeigten sich die Besucher sichtlich berührt vom Vortrag Karin Hagendorns. Johanna Werner-Muggendorfer zeigte sich erschüttert über die vielen Fälle, bei denen nach der „Schuld keine Sühne“ erfolgte. Die Abgeordnete bemerkte, dass nicht „Vergeltung“ oder „Rache“ die Motive der Aufarbeitung der NS-Verbrechen waren, sondern der Sühnegedanke was sie sehr beeindruckte. Dass dies, wie am Fall der Eleonore Baur gezeigt, so gar nicht funktionierte, bedauerte die Zuhörerschaft einmütig. Rainer Pasta erinnerte an die vielen Studien, in denen immer wieder von einem 20% Anteil an der Bevölkerung ausgegangen wurde, der antisemitisch und nationalsozialistisch eingestellt sei. „Wenn wir das zur Sprache brachten, wurden wir immer ausgelacht“, bestätigt Werner-Muggendorfer die Reaktion der konservativen Parteien in Kommunen, Land und Bund. „Fällt uns die fehlgeschlagene  Entnazifizierung weiter Teile der Gesellschaft nach dem Krieg heute auf die Füße“, fragte AK-Sprecher Rainer Pasta und verwies auf die neu aufblühenden rechtsradikalen Tendenzen und die Verrohung der Gesellschaft. „Was wir heute in Dresden und anderen Städten erleben, hätte niemand für möglich gehalten“, erklärte SPD-Ortsvorsitzender Georg Riedl und bedankte sich für den interessanten Abend.

Die Ausstellung „Schuld und Sühne?“ ist ab Montag im Haus I.R.E.N.E. der evang. Gemeinde in Neustadt zu sehen.

 

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